Eintauchen

Geschafft! Zwei von vier Interviews habe ich erfolgreich hinter mich gebracht. Ich war ganz schön aufgeregt im Vorhinein: Wird die Technik mitspielen? Werde ich den vereinbarten Treffpunkt finden? Wird Professor Neuman wirklich da sein? Auf meine letzte Mail vor einer Woche hatte er nicht mehr geantwortet. Hatte er mich vergessen? Wie werden die Interviews laufen? Können wir uns gut verständigen, obwohl Englisch nicht unser beider Muttersprache ist? Werde ich spannende Antworten bekommen? Wie weit in die Tiefe werde ich gehen können? Mir schießen nachts unzählige Gedanken durch den Kopf und sie rauben mir den Schlaf. Erst um drei Uhr nachts dämmere ich schließlich weg.

Doch meine Sorgen waren wie meistens unbegründet. Pünktlich um zehn erreiche ich Chens Wohnung. Sie hat sich bereit erklärt, mir die Bauhaus-Wohnung zu zeigen, die sie über airbnb vermietet. Gerne will ich sie fragen, ob sie auch selbst in einer Bauhaus-Wohnung wohnt, welches Feedback sie von ihren Gästen bekommt und was sie selbst am Bauhausstil fasziniert. Gleich beim Betreten der kleinen Wohnung im Erdgeschoss bin ich überwältigt: Der Fußboden ist noch der gleiche wie bei der Erbauung des Hauses im Jahre 1944, die Fließen, gelb und braun, schlagen Wellen auf dem Fußboden. Die Zimmer sind klein und spärlich, aber sehr erlesen möbliert. Es wurde bei der Innenausstattung stark darauf geachtet, dem funktionellen, geradlinigen Bauhausstil gerecht zu werden: Im Schlafzimmer steht eine uralte Schreibmaschine, auf deren Tasten bereits einige Buchstaben fehlen. Das Wohnzimmer besticht durch viele freie Flächen, lediglich ein schmales Regal lehnt wie eine Leiter an der Wand, gegenüber ein Sofa, davor ein kleiner Couchtisch. Knapp unter der Decke verläuft rundherum ein schmales Sims, auf dem ein paar Bücher Platz finden. Die Wand, die das Wohnzimmer einschließt, verläuft in einem Halbkreis, ebenso wie der Balkon, der sich auf dieser Seite des Hauses um die halbe Fassade zieht. Im ehemaligen Wohnzimmer ist heute das Elternschlafzimmer untergebracht. Am Fußende des Bettes wurde eine Glaswand eingezogen, hinter der sich heute ein schmales, aber hochmodernes Bad befindet. Ein Stück den Flur runter findet sich nochmal ein Badezimmer, winzig klein, komplett ohne 90 Grad-Winkel, aber dennoch voll ausgestattet mit Kloschüssel, Dusche und kleinem Waschbecken.

Die Wohnung in Bildern

„The flat has good vibes“

Chen nimmt sich eine gute Stunde Zeit, um mir meine Fragen zu beantworten. Während im Hintergrund die Waschmaschine läuft, die die Wäsche für die nächsten Feriengäste bereithält, erzählt sie mir ausführlich von den Leuten, die vorher in dieser Wohnung gewohnt haben: Eine Familie mit drei Söhnen, der Vater handwerklich so begabt, dass er sämtliche Möbel selbst gebaut hat. Hier kann man sich einige seiner Werke anschauen. Der Text ist zwar auf hebräisch, doch die Bilder sprechen für sich. Seit 1948 war die Wohnung in Besitz dieser Familie, und zumindest die Mutter lebte dort bis sie 99 Jahre alt war. „So the flat has good vibes“, lächelt Chen, die selbst Mutter von zwei Kindern ist. Nach dem Tod der Mutter wollten die Söhne die Wohnung eigentlich behalten, doch sie hatten nicht das Geld, sie zu halten. So konnten sich Chen und ihr Mann vor gut einem Jahr einen lang gehegten Traum erfüllen und die Wohnung abkaufen. Sie liegt in einem sehr beliebten Viertel Tel Avivs. Das Haus steht unter Denkmalschutz und darf daher baulich nicht verändert werden. Es erstrahlt noch im alten, weißen Glanz, besticht durch seine halbrunde Form, seine stille Eleganz. Chen und ihr Mann finden noch massenweise Möbel in der Wohnung vor, die der vormalige Besitzer selbst gebaut und dann dort gelassen hat. Sie wissen, dass die Söhne die Möbel gerne behalten wollen. Um dennoch einen Teil der Geschichte zu wahren, engagieren sie einen Fotografen, der die Möbel und Lampen, das Spielzeug und das Küchenzubehör aus der alten Wohnung fotografiert und meisterhaft in wunderschönen Aufnahmen zur Geltung bringt. Diese Aufnahmen hängen heute noch in den Zimmern verteilt. Ganz besonders beeindruckend ist ein multifunktionelles Wohnzimmermöbel, eine Mischung aus Lampe, Zeitungsständer und Beistelltischchen. Jedes Möbelstück hat seine ganz eigene Note, seine eigene Farbe, seine eigene Funktion. Schön, dass dieses Stück Familienleben auf diese Weise fortbestehen kann. Chens eigene Wohnung kann man sich übrigens hier anschauen.

Im Kunstmuseum von Tel Aviv

Nach dem Besuch bei Chen besuchen wir den Architektur-Professor Eran Neuman im Kunstmuseum in Tel-Aviv, im Azrieli-Architechture-Archive. Und nein, er hat unseren Besuch nicht vergessen. Zwar hat er nicht viel Zeit, doch nachdem wir uns drei Minuten mit ihm unterhalten haben, verstehen wir auch warum: In Zusammenarbeit mit einigen Architekturstudenten sichtet er gerade 1200 Kisten aus dem Nachlass vom wohl bedeutendsten Architekten Israels – Arieh Sharon. In diesen Kisten, die ihm vom ehemaligen Büro des bereits verstorbenen Sharon übergeben wurden, befinden sich Bauzeichnungen über Bauzeichnungen. Diese gilt es nun auszuwerten und zu entscheiden, von welcher Bauzeichnung ein Modell gebaut werden soll. Hierbei wird das Team unterstützt vom selben Modellbauer, der auch schon Arieh Sharons Modelle gebaut hat. Er war in seinen Zwanzigern, als er anfing für Arieh Sharon zu arbeiten. Nun ist er über siebzig und hilft mit, die Modelle genau so zu gestalten, wie sie auch Sharon gestaltet hätte. Bisher stehen etwa zehn Modelle in den Arbeitsräumen des Archivs, und viele weitere sollen noch dazukommen, bevor im April die Ausstellung über den Architekten und Stadtplaner beginnen soll. Mehr Infos über den Architekten findest du hier.

Nitzka Metzger-Szmuk

Obwohl Eren (wie wir ihn nennen dürfen) angekündigt hatte, nur eine halbe Stunde Zeit zu haben, widmet er sich uns schließlich doch fast eine volle Stunde. Er zeigt uns die Website, die Ariehs Urenkel erstellt hat, und auf der es hunderte spannende Dokumente, vom Foto über die Bauzeichnung bis hin zur Einschreibung am Bauhaus in Dessau zu finden gibt. Dann blättert er mit uns zusammen ein Buch von Nitzka Metzger-Szmuk durch. Sie ist die erste Frau, die sich fünfzig Jahre nach Entstehen der Bauhäuser in Tel Aviv darum kümmerte, ein Verzeichnung dieser Häuser zu erstellen und zu schauen, was inzwischen aus ihnen geworden ist. Im großformatigen Wälzer „Dwelling on the Dunes – Tel Aviv modern movement“ zeigt sie in informativen Vorher-Nachher-Bildern, was sich in den vergangenen Jahren alles verändert hat an den Bauhaus-Häusern – zum Guten wie zum Schlechten. Doch seit Herausgabe des Werkes sind weitere zwanzig Jahre vergangen. Was ist in dieser langen Zeit noch alles an Reparaturen, aber auch Verfall hinzugekommen? Dies herauszufinden, dafür soll der Freitag dienen. Wir werden das Bauhaus-Center besuchen, eine Führung miterleben und anschließend mit einem der Gründer des Center, Dr. Micha Gross, sprechen. Auch er hat ein solches Buch wie oben beschrieben herausgebracht, doch seines wurde erst 2015 herausgegeben. Was er wohl Neues über die Bauhaushäuser zu berichten weiß?